Brecht meets Literatur: Workshop mit der Schriftstellerin Kathrin Röggla am 31.10.2024
„Insofern wird die Frage, ob eine andere Katzenfrau noch unterwegs ist, erst einmal weitgehend unbeantwortet bleiben. Die Erklärburschen finden solche Überlegungen von vorneherein unsinnig, denn wenn das Gericht beginnt, setzt automatisch eine Vergangenheitsform ein. Etwas ist vorbei, garantiert es uns, und das ist ja gerade das Erleichternde. Über Zukünftiges kann man nicht richten […].“
Workshop mit der Schriftstellerin Kathrin Röggla
Es sind genau diese Zwischentöne, die den Roman „laufendes Verfahren“ von Kathrin Röggla auszeichnen, die Leserinnen und Leser zum Reflektieren animieren und somit zentrale Fragen des NSU-Prozesses aufwerfen. Für zehn Morde, zwei Bombenanschläge und fünfzehn Raubüberfälle wurde die „Katzenfrau“ Beate Zschäpe sowie vier weitere Angeklagte vom Oberlandesgericht München am 11. Juli 2018 verurteilt. Das Urteil umfasst insgesamt 3.025 Seiten. Hinzu kommen 44 Aktenordner mit dem Hauptverhandlungsprotokoll samt Anlagen. Juristisch sind die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ damit zunächst aufgearbeitet, die notwendige Aufklärungsarbeit ist aber noch unabgeschlossen.
Die Schülerinnen und Schüler des Deutsch-Leistungskurses von Frau Lang sowie des Politik- und Wirtschaft-Leistungskurses von Herrn Eisenhauer hatten am 31. Oktober die Möglichkeit, einen zweigeteilten Workshop mit Frau Röggla im Zuge des ersten „Lesetages“ der Akademie für Sprache und Dichtung, anlässlich der Feierlichkeiten zu ihrem 75. Geburtstag, zu absolvieren. Der erste Teil bestand aus einer Lesung aus „laufendes Verfahren“ mit anschließendem Gespräch, der zweite aus Beobachtungsübungen, die mit kreativen Schreibaufträgen gekoppelt wurden. Geschult wurden folglich zwei zentrale Werkzeuge von Autorinnen und Autoren: genaues Beobachten und die Übernehme einer anderen Perspektive.
Das rege Interesse der Schülerinnen und Schüler spiegelte sich in etwaigen Fragen. So stand zunächst der Stil des Werkes im Vordergrund: Warum Frau Röggla ihren Roman durch ein kollektives „Wir“ moderieren ließe, die Angehörigenperspektive sei beim NSU-Prozess doch überaus naheliegend, beinahe aufdringlich. Oder auch, ob die verschiedenen Figuren des Romans als Stereotype ironisiert würden, oder tatsächlich im Gerichtssaal anzutreffen gewesen seien. Besonders spannend erschien in diesem Kontext die Aussage Frau Rögglas, dass der Entstehungsprozess des Romans fünf Jahre der Prozessbegleitung und Recherche sowie der Aufnahme und Verarbeitung unzähliger Interviews benötigt habe. Die Kollektivperspektive ermögliche hier eine kontinuierliche Kultivierung der Auffassung zum Prozessinhalt, eine Projektionsfläche und gleichzeitige „Reibungsmöglichkeit“ für Leserinnen und Leser – die Perspektive der Anklage habe ihr darüber hinaus schlichtweg nicht zugestanden.
Auch der achtsame Gang durch den anliegenden Bürgerpark-Nord mit dem Schreibauftrag der Darstellung eines vollzogenen beziehungsweise vereitelten Verbrechens zog einige überaus spannende Erzeugnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach sich, deren Plenumsvortrag den schließenden Gesprächsteil des Workshops einleiteten und anschließend einen persönlichen Einblick in die Arbeitswelt Frau Rögglas ermöglichten. So sei der Entstehungsprozess eines Werkes zwar durch verschiedene Phasen gekennzeichnet, „Einsamkeit“ habe sie dabei aber noch nie verspürt. Auch würde der erfolgreiche Abschluss eines Werkes selten ein Gefühl der Melancholie beinhalten – eher erzeuge Abgeschlossenheit ein Gefühl der Zufriedenheit und des Wunsches nach literarischem Neuanfang. Ein Gefühl, dass der NSU-Prozess leider (noch) nicht vermitteln konnte.
Wir bedanken uns bei Frau Röggla für ihre Nahbarkeit und einen überaus spannenden Nachmittag an der Bertolt-Brecht-Schule. Neben dem konstruktiven inhaltlichen Austausch hoben die Schülerinnen und Schüler beider Kurse in den TUT-Stunden des folgenden Tages vor allem die Möglichkeit des Erprobens kreativer Schreibprozesse unter Anleitung einer „Spezialistin“ in einem bewertungsfreien Raum als überaus gewinnbringend hervor. Auch gilt unser Dank der Akademie für Sprache und Dichtung für die Möglichkeit am ersten „Lesetag“ teilnehmen zu dürfen!
Katja Lang und Jan Eisenhauer
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