„Ich war immer schon fasziniert von Menschen, die in der Vorgeschichte des Nationalsozialismus Widerstand leisteten, die also bereits zu Zeiten der Weimarer Republik anfingen zu erkennen: Da braut sich etwas zusammen. Leuschner war einer von denen, die das früh begriffen haben – so wie einige andere, die schon viel eher als die Mehrheit merkten, was bevorstand.
Viele haben erst später, spätestens im Januar 1933, die Bedeutung der Ereignisse verstanden und glaubten dennoch, es werde eine kurze Episode bleiben. So schlimm könne es ja nicht werden, dachten auch viele Demokraten, Kirchenvertreter und andere. Das ganze Ausmaß des Schreckens wurde ihnen erst im Laufe der nächsten Jahre klar.
Bei Leuschner war es anders. Menschen wie er interessieren mich, Menschen, die früh eine Art „Frühwarnsystem“ entwickelten und sagten: Wir müssen etwas tun. Als ich vor über 20 Jahren nach Hessen kam, sagte mir der Name Leuschner wenig. Ich bemerkte, dass es in jeder Stadt eine Leuschner-Straße gibt, und fragte mich, was wohl dahintersteckt. Natürlich fing ich an, darüber zu lesen – anfangs aus journalistischer Neugier.
Dabei stellte ich fest, dass Leuschner eine wirklich prägende Figur des Widerstands war. Hessen ehrt ihn nicht umsonst, schließlich ist die höchste Auszeichnung des Landes nach ihm benannt. Und doch: Andere Widerständige sind vergessen. Wenn man erst einmal zu recherchieren beginnt, wird klar, wie wichtig es ist, an diese Menschen zu erinnern. Besonders deutlich wurde mir das, als ich auf Dokumente aus den 1950er-Jahren stieß: Ein Ludwig Bergsträßer schreibt damals an Carl Zuckmayer, den Schriftsteller, und sagt: Sie waren doch ein Freund von Leuschner. Wir müssen etwas tun.“
Ludger Fittkau 35 Minuten als Podcast
Tagebuch Eintrag von Ludwig Bergsträsser zur „Brandnacht“ in Darmstadt vom
18. September 1944
Nachdem auf den vernichtenden Angriff auf Darmstadt auch das Notizbuch verbrannt ist, in dem ich seit acht Tagen die äußeren Eindrücke aufgezeichnet hatte, versuchte ich heute, den September zu rekonstruieren. (…) Wir gingen gegen elf zu Bett und hatten kaum geschlafen, als schon die Sirenen Voralarm gaben und kurz darauf hörte man schon Bomben fallen. Ich brachte den Apparat in den Keller, machte ihn an und wir hörten im Drahtfunk, dass Flugzeuge über Darmstadt seien, als schon ein toller Lärm losging. Ich rannte noch ins Erdgeschoss und trieb die beiden jüngeren Töchter zu höchster Eile. Sie waren kaum im Keller, da setzte der Angriff mit höchster Macht ein. Mir hatte schon gleich nichts Gutes geschwant; nicht wegen des mächtigen Fliegergebrumms, daran waren wir längst gewohnt; aber eine Hausbewohnerin hatte gesagt, sie habe rote Kugeln gesehen und was das bedeutet, wussten wir aus vorhergehenden Angriffen.
Bald folgte Schlag auf Schlag. Die eisernen Kellerläden nach Norden zu sprangen bei einem der schwersten Schläge auf, wir sahen nachher, dass an der kaum 50 Meter entfernten Straßenkreuzung eine schwere Sprengbombe niedergegangen war; gleich sahen wir durch die offenen Kellerfenster Brände hell aufleuchten, ich versuchte aus dem tiefen Luftschutzkeller in den Vorderkeller zu gehen, um zu sehen, ob es auch nach der Gartenseite brenne, was der hölzernen Veranda wegen anzunehmen war,- sah auch gerade Flammen durch das eine Kellerfenster, musste aber sofort wieder zurück, da durch die Einschläge dauernd Staubmassen hereinjagten und ich fürchtete, heruntergerissen zu werden; so kauerten wir dann mit offenem Munde an der Erde. Ich selbst war ziemlich ruhig, versuchte immer wieder einmal, die Notbeleuchtung anzuzünden, die aber im Wind verlosch. Es war auch schließlich durch die Flammen hell genug. Nach einer halben Stunde etwa wurde es stiller, Gisela und ich gingen hinaus, der Ausgang nach der Straße durch die Haustür war noch frei, ebenso der nach hinten in den Garten: wir gingen die Treppe hinauf, kamen noch bis in den zweiten Stock, wo wir sahen, dass die Mansarden hell brannten, versuchten noch, im zweiten Stock zu löschen, sahen ein, dass es vergeblich sei, versuchten dann noch aus dem ersten Stock, unserer Wohnung – Sachen herauszuholen; hier war ein großes Mauerloch, so dass die Betten in unserem Schlafzimmer von der Treppe aus offen lagen; ich griff eine Steppdecke, ein Federkissen, Gisela brachte beide in den Garten, wo sie auch einige Tage später gefunden wurden, verschmiert, aber erhalten. Inzwischen war es im Keller so heiß geworden, dass Gisela die älteren Leute und Christine anwies, das Haus zu verlassen, um zum Paulusplatz zu gehen.
Wir versuchten noch, ob etwas zu retten sei, gingen dann aber doch mit nassen Tüchern bedeckt los; wir wollten nach Süden zum Paulusplatz, weil der verhältnismäßig nah ist, aber da die Hochstraße schon brannte und da scharfer Ostwind war, schien es mir sinnvoller, dem Wind entgegen zu gehen, um ganz aus dem Bereich der Flammen zu kommen. Es war schwer genug, ich wäre beinahe in den Trichter an der Straßenkreuzung gestürzt, Gisela wurde von dem Splitter einer brennenden Masse getroffen. Meine Frau, die nur Hausschuhe anhatte, kam nur schwer gegen den rasenden Wind vorwärts, überall stoben Funken, fielen brennende Holzstücke, Papiere; aber wir schafften es, kamen an den Kirchhof, gingen hinein bis in die Mitte und blieben einige Zeit verschnaufend stehen. Dann erkundeten Gisela und ich, ob man an der Südseite durch die Pforte könne, da es uns besser schien, ganz ins Freie zu kommen, denn es bestand Gefahr oder schien wenigstens zu bestehen, dass auch der Kirchhof anbrenne, der verschiedene schwere Treffer bekommen hatte. Wir fanden einen Weg hinaus, teilweise über Gräber, deren Gitter zerrissen waren und holten die anderen nach, eine Anzahl unbekannte Frauen und Kinder schlossen sich uns an. Es war inzwischen scheußlich kalt geworden, denn die Nacht war klar und der Ostwind pfiff weiter unerbittlich; trotzdem hielten wir es für das Beste, nach Nieder-Ramstadt zu gehen, weil wir hofften, dort ein Notquartier für die Nacht zu finden. Als wir so die Straße langzogen, entdeckte uns eine Bekannte, die uns in ihr Zimmer zog, wo wir nun in einem zwar beschädigten, aber noch bewohnbaren Hause auf Stühlen und in einem Bett kampierten. Ein Schnaps und einige Zigaretten taten mir unendlich wohl. Was uns am meisten bedrückte war, dass wir über den Verbleib unserer jüngsten Tochter nichts wussten.
Da wir am Friedhof eine große Menge von Menschen gesehen hatten, ging ich mit Frau S., die den Weg zu ihren Geschwistern erkunden wollte, dorthin. Ich pfiff ständig unseren Familienpfiff, was mir wütende Bemerkungen eintrug von Leuten, die offenbar meinten, ich pfiffe ein Liedlein, aber doch schließlich dazu führte, dass ich einen Nachbarn traf, der mir sagte, er habe sie gesehen, sie sei offenbar gut herausgekommen. Mit dieser Botschaft gingen wir nochmals zurück und dann wieder fort, um in das Viertel hinter der Rosenhöhe zu kommen. Wir gingen über den Flugplatz, am botanischen Garten vorbei über freies Feld, da mir das am sichersten erschien, mussten einmal durch brennende Trümmer, deren Funkengestiebe wir rennend hinter uns brachten, krochen durch einen Drahtzaun und kamen so endlich an die Mauer der Rosenhöhe und von da wo wir das Schloss brennend sahen, zur Villa Merck auf dem Oberfeld. Da trafen wir die Verwandten von Frau S. und die Inhaberin des Hauses bot uns herrlichen Schnaps und echten Tee an; im Zimmer von H.s fanden wir Tomaten, mit denen ich die Tasche füllte, denn die Hitze hatte uns ungemein durstig gemacht. Die Wohnungsinhaber waren weg, wir gingen in den Olbrichweg, um dort nach Bekannten von Gisela zu sehen und trafen die junge Frau F., deren Haus beschädigt aber noch bewohnbar war. Daneben brannte die Villa Feigel, wo ich noch einiges aus dem Keller retten half, während Frau S. gegenüber half. Dann gingen wir am Ostbahnhof entlang den Weg am Woog zurück. Mitten auf dem Weg trafen wir die H.s, die eben einige Sachen von Geibel geborgen hatten, ich ging dann allein weiter, die Heidenreichstraße durch, wo so ziemlich alles, besonders der große Wohnblock an der Westseite brannte, dann bog ich in die Heinrichstraße ein, hier war eine beträchtliche Anzahl der Häuser schon ausgebrannt, und man sah aus dem Dunkle nur noch schwelenden Rauch kommen, aber ich sah bis zur Wiener Straße kein heiles Haus, alles ausgebrannt.
Zurück legte ich mich für kurze Zeit auf einen Teppich auf den Boden, ohne zu schlafen, aber das Liegen tat wohl. Als es dämmrig wurde gegen morgen, machten wir uns auf die Suche nach der Jüngsten, von der wir erfahren hatten, dass sie an der Villa Zinnkann am Herdweg gesehen worden war: dort trafen wir auch einen Nachbarn, der sie noch vor einer Stunde heil gesehen hatte, dazwischen unser Gegenüber, Herr Reeg mit Frau und Tochter, die uns sagten, dass sie mit knapper Not aus dem Hinterausgang des Luftschutzkellers heraus gekommen seien, vermutlich die einzigen aus dem Haus, die sich hätten retten können, was sich später als fast ganz zutreffend herausstellte. In der Helle ging ich dann zu unserem Hause und brachte eine Pappe mit unserer Adresse an. Das Haus war ausgebrannt, zusammengestürzt; im Luftschutzkeller, der wegen der Gewölbe standgehalten hatte, brannten die Latten, hinein konnte man nicht mehr, da der Hauseingang völlig verschüttet war. Da wir die Jüngste nicht fanden, ging ich nach mehrfachem Suchen gegen Mittag nach Eberstadt, weil wir annahmen, dass sie vielleicht mit der Mieterin des unteren Stocks mitgegangen sei; diese fand ich auch und bekam von ihren Bekannten Essen, was sehr angenehm war, denn in der Stadt gab es an diesem Tage gar nichts, wie denn die Organisation in den ersten Tagen völlig versagte. Es war offenbar hierin so wenig vorbereitet wie in anderer Beziehung. Die zuständigen Stellen hatten zwar eine ganze Reihe Wasserreservoire angelegt, aber keine Bunker gebaut. Mir sind nur die beiden natürlichen, die Keller der Felsenkellerbrauerei, der Keller der Villa Wolfskehl, Herdweg, der kleine Bunker an der Pauluskirche und der Privatbunker bekannt geworden, den sich die Herren von der Gestapo hatten bauen lassen, ihrer Wichtigkeit entsprechend. Ob der Bunker am Ostbahnhof als solcher zu bezeichnen ist, weiß ich nicht recht, man behauptet, er sei eigentlich nur ein gut überdeckter Splittergraben. Immerhin – das nicht genug geschehen und leichtfertig gehandelt worden war, lehrt der Vergleich mit Mannheim, wo ich einige Tage zuvor in einem ausgezeichneten Bunker einen Alarm mitgemacht hatte.
Ich ging von Eberstadt zurückkehrend, wie verabredet worden war, nach Nieder-Ramstadt, d.h. ich fuhr mit dem Autobus vom Böllenfalltor aus und freute mich der echten deutschen Ordnung, wir mussten bezahlen. In N. fand ich Frau und Tochter I.; ich wollte sofort weiter in den Odenwald, sie wollten partout die jüngste Tochter suchen, was ich für unsinnig hielt, da es sicher erfolglos sein werde. So ging ich an die Bahn und fand schließlich auch einen Zug, in den ich mich glücklich hineinzwängen konnte, da gerade aus einem Abteil Leute ausstiegen. Stehend bis Hetzbach, von da sitzend bis Kailbach. Da traf ich an der Bahn meine älteste Tochter mit den beiden jungen Frauen mit den drei Kindern, die sie morgens schon hatte wegbringen wollen. Sie hatten lange versucht, nach dem zwei Stunden entfernt Ernstthal ein Auto zu bekommen, der Leiter der Posthilfestelle hatte sich ihnen auch sehr gefällig erwiesen und überall herumtelefoniert, aber niemand hatte Benzin und der Landrat von Erbach, den man eher Schandrat betiteln sollte, bewilligte die 5 Liter nicht; da wegen der Ernte auch keine Pferde zu bekommen waren, zogen wir schließlich mit einem Kinderwagen – der andere war auf dem Transport zu Schaden gekommen – und einem kleinen Handwagen, auf den wir den fünfjährigen Buben setzten, ab: auf dem Weg machte sich die Überanstrengung arg geltend. Der Weg, der uns sonst leicht wurde, zog sich nun entsetzlich, verlängerte sich psychologisch noch durch die Dunkelheit, und wir mussten oft einmal haltmachen, da auch ich so ziemlich am Ende meiner Kräfte war; etwa 2 Kilometer vor dem Ziel überholte uns ein Lastwagen, wir hielten au und baten, wenigstens die eine Frau mit zu nehmen, was er ablehnte; ich schimpfte hinter ihm her und wenn ich einen Revolver gehabt hätte, hätte ich sicher aus Wut geschossen.
Wir kamen etwa um 22.00 Uhr in Ernstthal an und bekamen, da wir uns telefonisch angemeldet hatten, auch noch Essen und Wein und Most und Zigaretten. Als wir zu Bett gingen, hörten wir Flieger massenhaft über uns surren, wir überwanden aber das unangenehme Gefühl doch alle, teils, weil wir uns in dem einsamen Haus sicher fühlten, teils wohl, weil wir aus Übermüdung gleichgültig waren; ich schlief unter dem Surren der Motoren ein. Am andern Tag hörte ich, dass in der Nacht ein Angriff auf Frankfurt gewesen war, ganz ähnlich dem auf Darmstadt, mit ähnlich verheerenden Wirkungen.
Als ich am nächsten Morgen nach Schlossau hinaufging, sah ich schon auf dem Wege eine große Zahl Flugzeuge am Himmel; es war ein ganz heller Herbsttag, aber überall zogen sich die Kondensstreifen der Fliegergeschwader hin, so dass der Himmel wie gerillt aussah, und die Flugzeuge blitzten im Schimmer der Sonne; in der Ferne vereinigten sich die vereinzelt fliegenden Geschwader auf einen Punkt, und die Leute die friedlich in den Haustüren standen, höchstens einmal ihre Kinder ermahnten, nahe am Haus zu bleiben, sagten, es sei sicher wieder ein Angriff auf Darmstadt. Sie hatten in der Nacht zuvor den Angriff sehr gut beobachten können, den Regen von Explosivem und Brandbomben und den ungeheuren Brand ganz deutlich gesehen: Ich stellte mit Interesse fest, dass ich trotz der schrecklichen Nacht gar keine Angst hatte, ich ging die ganze Zeit ruhig weiter, obwohl die Geschwader zeitweilig direkt über uns waren und ging auch ohne Bedenken in die Bürgermeisterei.“