Till Wilhelm, Jahrgang 1997, ging nach dem Abitur an der Brecht 2015 nach Berlin und probierte einiges aus. Es führte zu einem Bachelor in Filmwissenschaft und Literaturwissenschaft, einem langen Praktikum bei einem mittlerweile eingestellten Hip-Hop-Magazin, einem abgebrochenen Masterstudium der Gegenwartsliteratur und einiger freiberuflicher Arbeit als Kulturjournalist. Seit 2023 leitet er die Redaktion des öffentlich-rechtlichen Infotainment-Formats HYPECULTURE, das 2024 mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.
TILL: „Rappern zu begegnen bedeutet meistens, dass man sich darauf einstellen muss, dass sie erst einmal eine halbe Stunde zu spät kommen. Im direkten Kontakt sind es dann aber oft ganz nette Leute – natürlich sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Wenn man ihnen als Journalist oder nur flüchtig begegnet, kennt man ihre Lebensgeschichten nicht immer, die sie in ihrer Musik über- oder unterdramatisiert erzählen.
Viele von ihnen sind zugleich sehr professionelle Menschen. Gerade im Fall von Gangsta-Rappern liegt ihr Beruf nicht darin, Gangster zu sein, sondern darüber zu rappen – Geschichten zu erzählen, ähnlich wie andere Künstler Geschichten erzählen. Auch wenn manche Figuren etwas stärker in diese Welt verwickelt sind, sind die meisten schlicht Berufsmusiker, die ihren Job ernst nehmen und sehr professionell in dem auftreten, was sie erzählen und wie sie sich verhalten.“
Öffentlich-rechtliche Angebote für junge Leute! Und dann die zweite Erkenntnis: Dass das eben Leute machen müssen, die selbst irgendwie in dieser Kultur stecken, die echte Liebe dafür haben und das auch verkörpern können. Einer von denen zu sein, die man ansprechen will – vielleicht zehn Jahre älter, aber: genau. Und da bin ich natürlich auch nicht der Einzige in der Firma. Die ganze Serie ist ein Baby meiner drei Vorgesetzten, die das eben bei Funk – das heißt, dem Netzwerk der Öffentlich-Rechtlichen für junge Leute – durchgeboxt haben und die an vielen Stellen gesagt haben: „Nein, das ist unsere Vision und wir machen das so. Und wenn wir es nicht so machen, machen wir es gar nicht.“ Das ist, glaube ich, eine Haltung, die man auch braucht gegenüber den Sendern, um etwas durchzusetzen, das am Ende erfolgreich ist, weil es eine Zielgruppe anspricht, an die sie sonst nicht rankommen.
Also, wie HYPECULTURE, die Serie, die wir für Funk machen, entstanden ist – Teil des Gründungsmythos ist, sage ich mal, dass es dort einen Redakteur gab bei Funk, also bei den Öffentlich-Rechtlichen, der gesagt hat: „Uns geht hier eine riesige Zielgruppe durch die Lappen. Wir machen nichts, was – ich sage mal – Jugendliche von der Straße anspricht.“
Interviews mit Rappern sind für ihn oft standardisierte Abläufe. Eine E-Mail von der PR-Firma kündigt an, dass Rapper XY sein neues Album veröffentlicht, und schon sitzt er in einem Hotelzimmer oder Büro. Dreißig bis fünfunddreißig Minuten bleiben, um ins Gespräch zu kommen, während er die richtigen Fragen aus dem Stegreif stellen muss – besonders bei Künstlern, die an einem Tag mehrere Interviews absolvieren. Zwischendurch werden Burger geliefert, alle halbe Stunde wird ein Joint geraucht. In dieser kurzen Zeit überhaupt zwei oder drei sinnvolle Sätze herauszubekommen, ist ein kleiner Erfolg, insbesondere bei internationalen Künstlern auf Deutschland-Tour.
Es gibt jedoch auch Begegnungen, die weit über das Standardinterview hinausgehen und im Gedächtnis bleiben. Ein Beispiel ist ein Spaziergang durch Gesundbrunnen mit einer Rapperin, bei dem sie über ihr neues Album sprachen. Aus der ursprünglich geplanten Stunde wurden schließlich drei, vier Stunden, in denen sie durch den Wedding liefen, Geschäfte und die Galeria besuchten und über alles Mögliche sprachen. Solche langen Begegnungen erlauben ihm tieferen Einblick: Er erkennt, dass diese Künstler Menschen mit ganz normalen Sorgen sind, die sich selbst hinterfragen.
Viele kämpfen mit denselben Fragen wie andere Berufstätige: Bin ich gut genug? Wieso mögen die Leute mich nicht? Habe ich Fehler gemacht? Warum ist mein Plan gescheitert? Was kann ich tun, um meinen Erfolg zu sichern oder zurückzugewinnen? Hinter den großen Egos stecken oft Selbstzweifel, und genau diese Ambivalenz macht das Arbeiten mit ihnen so faszinierend.
Till recherchiert zur Geschichte der Bomberjacke – einer Jacke, die ursprünglich für Piloten entwickelt wurde, die in großer Höhe flogen, um Bomben abzuwerfen. Sie war Ausdruck reiner Funktionalität im Dienst des Krieges und damit Symbol einer technisch gewordenen Form des Tötens.
Später gelangte die Jacke in die englische Arbeiterklasse, insbesondere zu den Skinheads, die zunächst eng mit jamaikanischen Einwanderern verbunden waren und sich über Reggae, Zusammenhalt und Stolz auf die eigene Herkunft definierten. Mit dem Rechtsruck in Großbritannien wurde diese Szene jedoch zunehmend von Rechten vereinnahmt, und die Bomberjacke wandelte sich zum Symbol aggressiver, nationalistischer Männlichkeit.
In den 1980er- und 1990er-Jahren – bis weit in die 2000er hinein – galt sie als „100-Prozent-Nazi-Jacke“: Bomberjacke, Springerstiefel, Baseballschläger – ein klarer Code.
Wenige Jahre nachdem Bomberjacken an deutschen Schulen verboten worden waren, trug Bushido sie in seinen Musikvideos – als Zeichen von Stärke, Härte und Provokation. Damit kehrte die Jacke erneut als aufgeladene Chiffre für Macht und Männlichkeit in den Mainstream zurück.
Ihre Geschichte fasziniert, weil sie zeigt, wie ein Kleidungsstück vom militärischen Establishment über die Arbeiterklasse und rechte Subkulturen bis hin zu High Fashion, queerer Ästhetik und Deutschrap wandern konnte – ohne dass sich ihr Schnitt oder ihre symbolische Bedeutung je wirklich veränderten.
Die Bomberjacke blieb stets Ausdruck von Männlichkeit, Härte und Autorität – ein Kleidungsstück, das in jeder Kultur, jedem Milieu und jeder Gegenbewegung dieselbe Energie transportierte. Gerade deshalb, so seine Beobachtung, lässt sich auch die Machokultur im Hip-Hop nur verstehen, wenn man sie in diesen größeren historischen und kulturellen Kontext einordnet.
HYPECULTURE: Graffiti in Berlin
Der Beitrag erzählt die Geschichte der Berliner Graffiti-Szene. Eine Welt, die aus der Begeisterung für US-Amerikanische Street-Culture entstand und über die Jahrzehnte eigenständige Ästhetiken, Formen und Strukturen entwickelt hat. Im Konflikt mit dem Gesetz musste die Szene immer wieder neue Strategien finden, um dem wahrscheinlich einzigen illegalen Hobby nachzugehen, mit dem man kein Geld verdient.
(Recherche & Skript, Till Wilhelm)
HYPECULTURE: Straßenslang
Die deutsche Sprache ist im Wandel und das ist gut so. Erheblichen Anteil daran hat der Deutschrap — eine Kunstform, deren Protagonist*innen Hochdeutsch, lokale Dialekte und Lehnwörter aus den Sprachen ihrer Eltern und Freunde zu einem Neudeutsch vermengen, das fähig ist, andere und marginalisierte Realitäten sprachlich abzubilden. Der Beitrag wurde 2024 mit einem Grimme-Preis in der Kategorie „Jugend“ ausgezeichnet.
(Autor, Till Wilhelm)