„Das ist die Akte, die mich interessiert!“
Die Erinnerungsarbeit und Fragen der Brecht Geschichtswerkstatt
Wer waren die Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensweise nicht in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ einfügten? Die sich dem Anpassungsdruck verweigerten? Der Diktatur entgegenstellten? Welche Konsequenzen hatte dies für die Betroffenen angesichts des totalen Herrschaftsanspruchs des NS-Regimes?
Diesen Fragen geht die aktuelle Ausstellung Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Biografische Erkundungen 1933-1945 der BrechtGeschichtswerkstatt in Kooperation mit der Darmstädter Geschichtswerkstatt nach. Seit dem 08. Februar ist sie im Max-Mannheimer-Studienzentrum in Dachau zu sehen.
„Wie einzelne Puzzleteile“
Ein Jahr lang haben Schüler*innen der jetzigen Q4 und Q2 – begleitet von Kirsti Ohr und Bernhard Schütz – in Archiven recherchiert und sich so Biografien angenähert. Sie untersuchten dabei auch die unterschiedlichen Gründe, aus denen Menschen in den Fokus der Nationalsozialisten gerieten, verfolgt, verhaftet oder in KZ verschleppt wurden.
Die intensive Arbeit an den Dokumenten, die Diskussionen untereinander, aber auch die Offenheit der Projektarbeit führten zu immer konkreteren Fragen bei den Projektteilnehmer*innen. Und selbst wenn – angesichts der zum Teil schwierigen Quellenlage – Fragen zu den Biografien hinter den Archivalien unbeantwortet blieben, sind die Rechercheergebnisse beeindruckend. So spricht eine Ida die vielschichtigen Umstände an, aufgrund derer sich der Schuhmacher Karl Platzer im Rundeturmgefängnis in Darmstadt das Leben nahm: „Ich glaube, für Platzer war es wirklich schwierig, damit umzugehen, in welche Lage auch seine Kinder gebracht werden, weil er verhaftet worden war.“ Berücksichtige man zusätzlich noch seine Angst vor dem Sondergerichtstermin, könne man sicherlich trotz Abschiedsbrief nicht von einem „Freitod“ Karl Platzers sprechen.
Die Ausstellung portraitiert die Menschen auch deshalb anhand der Archivalien. Die Dokumentenauswahl zeigt wie Verfolgung, Inhaftierung und Deportation von den Behörden in Karteikarten, Rapporten, aber auch Briefwechseln und persönlichen Mitteilungen als Verwaltungsakt angelegt wurden. Die vielfältigen Schriftstücke und Fotografien sollen einladen, nach Handlungsräumen der Betroffenen – unter den Bedingungen der NS-Herrschaft als auch im Kampf um Entschädigung nach 1945 – zu fragen.
Rainer Lind führte mit den Projektteilnehmer*innen die Video-Interviews. Seine Kamera fängt ein, wie sie Antworten finden, was historisches Arbeiten für sie – für die Gegenwart bedeutet und welche Verantwortung damit verbunden ist. Wie sie ihre Methodik und Herangehensweise reflektieren, ihre Primärerfahrungen mit Archivarbeit und ihre Begegnung mit dem unter Archivmaterial verborgenen Menschen schildern oder wie sie sich ihrer Verantwortung im Umgang mit historischem Material bewusst werden. QR-Codes verknüpfen die Zitate auf den Ausstellungstafeln mit der Website. Auf dieser können Interessierte die Interviews ansehen und sich vertiefend mit dem ausgewählten Quellenmaterial und den Ergebnissen der biografischen Recherchen beschäftigen.
Das Projekt wird öffentlich
Am 08.02. erfahren die Projektteilnehmer*innen für ihre Arbeit auf der Vernissage im Max Mannheimer-Studienzentrum viel Wertschätzung. Eröffnet wird die Veranstaltung durch ein sechsköpfiges Ensemble der Viktoriaschule Darmstadt unter der Leitung von Christina Troeger. „Mein Vater wird gesucht … Sie hetzen ihn mit Hunden, vielleicht ist er gefunden und kommt nicht mehr nach Haus.“ Mit diesen einfachen Worten thematisiert das Lied von Hans Drach aus der Perspektive eines Kindes Verfolgung und Ermordung eines Widerstandskämpfers. Danach begrüßt Felizitas Raith unter den zahlreichen Anwesenden besonders Sebastian Franke und hebt anerkennend hervor, wie notwendig und doch selten eine solche Unterstützung und Offenheit von Schulleitungsseite gezeigt werde. Auch auf die jahrelange Kooperation zwischen der Bertolt-Brecht-Schule Darmstadt und dem Studienzentrum geht sie ein. Bernhard Schütz stellt das Konzept der Ausstellung, die chancenreiche und gleichzeitig fordernde Begegnung mit den Archivalien im Rahmen biografischer Erkundungen und natürlich die professionelle Gestaltung durch Rainer Lind vor. Dann spielt das Ensemble der Viktoriaschule unter der Leitung von Christina Troeger als Swing-Stück Means that you‘re Grand. Im Kontext der Ausstellung: eine Würdigung an die vom NS-Regime Verfolgten, erneut aus der Perspektive der sie Wertschätzenden – seien es Familienangehörige, Freunde oder Mitstreiter*innen gegen den Faschismus.
Ganz dem Konzept der Ausstellung, dem Dialog mit den Quellen und der Subjektorientierung, verpflichtet, folgt darauf die Vorstellung der biografischen Erkundungen – im Gespräch mit den Vernissage-Besucher*innen. Die BrechtSchüler*innen erklären ihre Herangehensweise, welchen Überlegungen und Fragen sie während der Recherchen besondere Beachtung schenkten. Welche Rechercheergebnisse sie erinnern wollten, wie es also zu der Auswahl der in der Ausstellung präsentierten Abbildungen und Texte kam.
Am 09.02. nehmen die Schüler*innen der Brecht und der Viko gemeinsam an einem ganztägigen Workshop unter der Leitung von Hannah Bauchle, Mitarbeiterin des MMSZ, teil und vertiefen auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte die Dimensionen und Systematik des Terrors.
Kurz vor Mitternacht sind beide Schülergruppen wieder zurück in Darmstadt und blicken auf zwei intensive Tage zurück. Ermöglicht und unterstützt wurden diese durch die Fördervereine der Bertolt-Brecht-Schule, der Viktoriaschule und die HLZ. Das Gesamtprojekt wird inhaltlich getragen durch die Kooperationen zwischen MMSZ, der Darmstädter Geschichtswerkstatt und dem Künstler Rainer Lind. Die Ausstellung der Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V., in die die Arbeiten der BrechtGeschichtswerkstatt integriert sind, wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben“ gefördert.
Ab 18. April wird die Ausstellung in Darmstadt im Hauptstaatsarchiv sowie in der Brecht-Schule gezeigt. Ab September wird sie in der KZ-Gedenkstätte Osthofen und anschließend im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden zu sehen sein.